Otto-Hintze-Nachwuchspreis 2025

Florian Kühnel und Michael Borgolte bei der Preisverleihung am 11.07.2025

Am 11.7.2025 wurde im Rahmen der Absolventenverabschiedung des IfG bereits zum siebten Mal der Otto-Hintze-Nachwuchspreis vergeben: PD Dr. Florian Kühnel, der mehrere Jahre Mitarbeiter an der Professur für Geschichte der Frühen Neuzeit am IfG war (Habilitation HU Berlin 2024), erhielt ihn für seine Habilitationsschrift „Diplomatie als kollektive Praxis. Botschaftssekretäre und diplomatischer Alltag im frühneuzeitlichen Istanbul“. Der Preis ist mit 3000 € dotiert. Michael Borgolte hielt die nachstehende Laudatio:

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Studierende,
zu den schönsten Privilegien eines Universitätsprofessors oder einer Professorin gehört es,

die besten Köpfe jüngerer Generationen um sich zu versammeln,

mit den Kreativsten zu diskutieren

und sich für empfangene Geschenke phantasiereicher Anregungen mit der Vergabe von Bestnoten dankbar zu erweisen.

Ich hatte zwar nicht mehr das intellektuelle Vergnügen, Florian Kühnel im Studium zu begegnen, sondern ich kenne ihn nur als Autor eines fulminanten Buches; ich bin aber in der glücklichen Lage, für mein Studium seiner Habilitationsschrift  mit einer anderen als der aufgeführten Gegengaben zu antworten:

Der Vorstand der Michael-und-Claudia-Borgolte-Stiftung zur Förderung der Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität hat mich beauftragt, ihn heute mit dem Otto-Hintze-Nachwuchspreis 2025 zu ehren. Der Vorstand hat als Jury amtiert und nach der vergleichenden Lektüre aller eingereichten Bewerbungen, die durchweg ein beachtliches Niveau ausgezeichnet hat, einstimmig für das Werk von Florian Kühnel entschieden.

Kühnels Habilitationsschrift von 2022, die im vorigen Jahr auch im Druck erschienen ist, brilliert gleich in mehreren Hinsichten:

Einer weiterführenden wissenschaftlichen Fragestellung, die in jeder Einzelheit gegenüber dem Forschungsstand genau markiert ist,

einer bestens durchdachten theoretischen Grundlegung, die luzide und facettenreich entfaltet wird, ohne doch, wie es so oft geschieht, den Selbstgenuss durch demonstrative Gelehrsamkeit zu suchen,

einer bis ins Einzelne durchdachten Untersuchungsstrategie, die scheinbar unangestrengt ihre Thesen und Erkenntnisse in acht Großkapiteln und 55 Unterabschnitten zutage fördert,

einer Kunst der Darstellung, die einen vermeintlich spröden Stoff in einer fesselnden Erzählung bietet, die die Lesenden Zeit und Umstände eigener Lektüre vergessen macht.

Worum aber geht es?

Nach dem Untertitel seines Buches sind Botschaftssekretäre im frühneuzeitlichen Istanbul der Gegenstand. Man könnte nun denken, dass über Botschafter der Zeit schon genug geschrieben wurde, so dass der Autor eine Lücke gesucht hat und auf die Akteure der zweiten Reihe, eben die Botschaftssekretäre, gekommen ist. Vielleicht war das auch Kühnels erster Gedanke. Die zündende Idee, die aber die schöpferische Kraft dieses Autors erkennen lässt, bietet der Obertitel: „Diplomatie als kollektive Praxis“.

Kühnels erste grundlegende Erkenntnis, die er in seinem Buch eindrucksvoll belegt, war also die Einsicht, dass kein Einzelner, weder der Botschafter noch seine Sekretäre, das Werk der zwischenstaatlichen Kommunikation gestaltet haben, sondern daran noch viele andere beteiligt waren, Schatzmeister etwa, Schreiber, Übersetzer, und ja – auch die Frauen der Botschafter und der Botschaftssekretäre.

Um dies zu zeigen, widmete er aber keineswegs den Akteuren kurzbiographische Skizzen, so plastisch einzelne von ihnen in seinem Erzählfluss hervortreten, sondern – das war Kühnels komplementäre zweite Idee – er folgte einem praxeologischen Ansatz, der eine alltagsgeschichtliche Erzählung ermöglichte. Es waren also nicht so sehr die Institutionen und Ämter, die Verwaltungsvollzüge und politischen Prozesse, in denen er die Funktionsweise der frühneuzeitlichen Diplomatie vergegenwärtigte, sondern es war das Wirken der Einzelnen und ihr Zusammenwirken mit anderen, gerade auch neben und durch Überschreiten vermeintlich fixierter amtlicher Stellen oder Prärogativen.

So kann Kühnel deutlich machen, wie Diplomatie von unten funktionierte, durch Regelverstöße vor Erfindung der Regeln, durch Improvisationen in ungeplanten und unwiederholbaren Herausforderungen jedes neuen Tages. Nicht, dass dieses diplomatische Leben ganz ohne Ordnung abliefe, aber die von Fall zu Fall gültigen Handlungsmaximen waren höchst variabel.

Das Objekt seiner Studie sind die Beziehungen zwischen der englischen Monarchie und dem osmanischen Reich vom späten 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert. Zwar bieten türkische Archive keine reiche Überlieferung, dafür waren aber auf der anderen Seite ungeahnte Schätze zu heben, neben den Quellen der Londoner Zentrale vor allem die privaten Sammlungen der Botschafter William Trumbull und William Paget um 1700.

In bewundernswerter Weise gelingt es Kühnel, trotz dieses Ungleichgewichts die Wechselbeziehungen der beiden Reiche als interkulturellen Dialog zum Sprechen zu bringen und als deren Ergebnis transkulturelle Innovationen vor Augen zu führen. Die Komplexität des Untersuchungsgegenstandes und zugleich der Ursprung der schönsten analytische Ergebnisse sind besonders dadurch bedingt, dass auf englischer Seite nicht einfach der Königshof mit seinem Gesandtschaftspersonal stand, sondern zugleich, sogar in erster Linie, die Handelsgesellschaft ‚Turkish‘ beziehungsweise ‚Levant Company‘. Es waren also die Bedürfnisse englischer Händler am Bosporus, die überhaupt erst eine diplomatische Vertretung ihres Heimatlandes erforderlich machten, und es war die Ambition des Sultans, dass diese nicht aus einem einfachen Gesandten bestehen durften, sondern einen Botschafter verlangte.
Die Botschaftssekretare wurden von der Company bezahlt, häufig aber vom Botschafter ernannt oder doch durchgesetzt, das ist von Zeit zu Zeit verschieden. Neben den Botschaftssekretären, die vor allem mit konsularischen Fragen, besonders Handelsangelegenheiten befasst waren, standen die Privatsekretäre der Botschafter für die ‚Staatsaffären‘, aber beide Funktionen konnten in einer Person vereint sein.

Im Laufe der zwei Jahrhunderte, die Kühnel untersucht, qualifizierten verschiedene Voraussetzungen, gegebenenfalls in unterschiedlicher Mischung, für die Ämter von Botschafter und Sekretär: Die ständische, also vor allem adlige, Herkunft mit ihrem Patronagesystem, ein Universitätsstudium in Oxford oder Cambridge oder aber berufliche Erfahrung, sei es im diplomatischen Dienst selbst, sei es im Milieu des Gastlandes.

Besonders bedeutend unter Kühnels Ergebnissen ist die Einsicht, dass von einer Expertenkultur nicht die Rede sein kann. Entgegen der zeitgenössisch belegten Vorstellung einer Arbeitsteilung, die dem Botschafter wie dem Zeiger einer Uhr die repräsentative Rolle zuweist, seinem Sekretär aber die Funktion des Uhrwerks als bewegendes Element des Betriebes selbst, lässt sich bei den Sekretären eben kein Expertenwissen nachweisen, das dem Botschafter sein Agieren erlaubte. Dafür erwies sich die Institutionalisierungsgrad der Diplomatie als zu gering. Vielmehr kam es auf ein Alltagswissen an, das für das richtige Handeln in den jeweiligen Umständen nützlich war.

Mit dieser These wendet sich Kühnel nicht zuletzt gegen die gegenteilige Annahme des führenden Diplomatieforschers Hillard von Thiessen, er folgt aber einer herrschenden Tendenz einer kulturhistorisch geprägten Forschung: Diplomatiegeschichte der Frühen Neuzeit fügt sich nicht zur Fortschrittsgeschichte mit dem Ziel des modernen Verwaltungsstaates in der Nachfolge von Max Weber.

Es ist unmöglich, den Reichtum von Kühnels Beobachtungen und Reflexionen zusammenzufassen oder gar wiederzugeben. Lassen Sie mich aber an einem Beispiel seine Arbeitsweise demonstrieren. Es zeigt sich, dass der Geschichtsschreiber ohne Phantasie nicht auskommt, ihr aber als Geschichtsforscher Zügel anzulegen versteht.

Zur Alltagsgeschichte der Diplomaten gehörte selbstverständlich das Verhältnis von Wohnen und Arbeiten. Der Normalfall war es offenbar, dass die Botschaftssekretäre in Istanbul im Palast des Botschafters ihre Wohnung hatten. Für das Mobiliar mussten sie selbst aufkommen. Als der Palast 1725 abbrannte, verlor auch der Sekretär John Edwards sein Inventar. Er erhielt nun zum Ersatz eine neue „bed chamber“, bestehend aus Bett, Kissen, Laken, aber auch einen Tisch, sechs Lederstühle aus Wallnussholz, zwei Armstühle, ein Sofa, kostbare Damastvorhänge sowie einen osmanischen Teppich. Offensichtlich handelte es sich nicht nur um ein Schlafgemach, sondern auch um einen Ort für soziale Zusammenkünfte, und zwar auch für solche im Rahmen seiner Amtswaltung.

Als Edwards 1730 ausschied, verkaufte er seinen Besitz an seinen Nachfolger William Sandys, der aber dazu eine große Schreibkommode erwarb. Sandys nutzte sein Schlafzimmer also auch als Homeoffice. Als Sandys Ann, die Tochter der Hauswirtschafterin des Botschafters heiratete, bewohnte auch diese ein eigenes Schlafgemach. Wiederum ist für Ann eine Zimmereinrichtung belegt, die auf multifunktionale Planung und Verwendung hindeutet: Neben Bett mit Decken und Kissen sowie einer Kommode mit Bettwäsche verfügte die Gattin des englischen Sekretärs über eine Truhe mit Papieren, einen Tisch sowie einen Armstuhl und wiederum sechs Lederstühle. Nach Kühnels Vermutung sprechen Papiere und Tisch dafür, dasss Ann ihrer Mutter bei der Verwaltung des täglichen Bedarfs zur Hand ging oder aber den Botschaftssekretär selbst unterstützte, etwa im Falle von Krankheit oder Abwesenheit.

Jedenfalls sprechen die Sitzmöbel für sechs Personen in beiden bedrooms dafür, dass hier informelle Kanäle zur offiziellen Diplomatie genutzt wurden. Für transkulturelle Geselligkeit spricht in diesem Zusammenhang, dass für solche Treffen in den Räumlichkeiten der Sekretäre Becher für Scherbet, Kaffeeservices oder Parfümflacons nach der ‚Turkish fashion‘ belegt sind. Das Sofa in Edwards‘ Möbelbestand, das ebenso im türkischen Milieu selbst beliebt war, kann geradezu als Faktor transkultureller Geselligkeit bewertet werden.

Die Gäste, die Edwards und Sandys in ihren Gemächern empfingen, mochten bei Kaffee und Karamelspeise oder Sorbet Informationen ausplaudern, die den Engländern zum Vorteil gereichten, oder dazu beitragen, festgefahrene Verhandlungen wieder in Gang zu bringen. Es besteht nach Kühnels Buch kein Grund mehr, diese Wege der Politik und des interkulturellen Austauschs nur als Folklore geringzuschätzen, ganz im Gegenteil. Vom Gesandten des Königs bis zur Tochter der Haushälterin wirkten alle Angehörigen der Botschaft an einer kollektiven Praxis mit, die der Diplomatie Erfolge versprach.

Lieber Herr Kühnel, ich darf Sie zu mir bitten, um Ihre Urkunde und meine herzlichsten Glückwünsche in Empfang zu nehmen.