Zum ersten Mal wurde der Preis im Jahr 2013 verliehen, und zwar an Dr. Christina Wessely für ihr Buch „Welteis. Eine wahre Geschichte“. Matthes & Seitz, Berlin 2013.
Im Rahmen der Absolventenfeier des Instituts am 12. Juli im Senatssaal der HU würdigte Prof. Dr. Gabriele Metzler für die Jury (bzw. den Vorstand der Stiftung) Christina Wesselys Monographie mit folgender Laudatio:
„Ich freue mich sehr, im Namen des Vorstands der Michael- und-Claudia-Borgolte-Stiftung heute den ersten Otto-Hintze-Nachwuchspreis vergeben zu dürfen. Ausgezeichnet werden sollen damit jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für ihre Arbeiten – Qualifikationsschriften, aber auch andere Schriften –, die am Institut für Geschichtswissenschaften entstanden sind. Es wäre ganz im Sinne der Stifter, den Preis als eine positive Bestätigung zu verstehen, als eine Ermutigung jüngerer Historikerinnen und Historiker auf dem schwierigen Weg der wissenschaftlichen Karriere.
Die Auswahl des ersten Preisträgers bzw. der ersten Preisträgerin erwies sich für die Jury gleichermaßen als große Herausforderung, als Luxusproblem und beglückende Erfahrung für uns alle, die wir die Werke lesen durften. Denn alle eingereichten Arbeiten zeichneten sich durch höchstes wissenschaftliches Niveau, kluge Fragen und originäre Forschungsleistungen aus. Die Bandbreite der Themen über Epochen und Regionen hinweg war ebenso beeindruckend wie die methodische Vielfalt und Originalität.
Mit dem Preis auszeichnen möchte die Jury Frau Dr. Christina Wessely, seit 2012 Mitarbeiterin an unserem Institut, für ihre „wahre Geschichte“ von der Welteislehre und ihrem Schöpfer, Hanns Hörbiger, die sie vor wenigen Wochen in Buchform publiziert hat. Die „wahre Geschichte“, so der Untertitel des Werks, handelt von der Frage, was als wissenschaftlich gelten darf; wer über die Grenzziehungen zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft entscheidet, und wie solche Aushandlungsprozesse vonstattengehen. Als Sujet hat sie sich eine schillernde Theorie und eine nicht minder schillernde Persönlichkeit ausgewählt. Hanns Hörbiger, beruflich als erfolgreicher Ingenieur bestens etabliert, widmet sich nach Feierabend in einer ungarischen Maschinenfabrik der Frage nach der Entstehung des Universums. So unbescheiden eine solche Frage für einen wissenschaftlichen Amateur anmutet, so sehr beeindruckt schließlich die Theorie, deren Grundidee Hörbiger in einer sternenklaren Nacht im September 1894 in einer genialischen Anmutung zufliegt und die er schließlich, achtzehn Jahre später, in ein dickleibiges Buch presst. Auf mehr als 780 Seiten präsentiert er zur Jahreswende 1912/13 seine „Glacial-Kosmogenie. Eine neue Entwickelungsgeschichte des Weltalls und des Sonnensystems. Auf Grund der Erkenntnis des Widerstreites eines kosmischen Neptunismus mit einem ebenso universellen Plutonismus, nach den neuesten Ergebnissen sämtlicher exakter Forschungszweige“. Das Buch offenbarte eine wissenschaftliche Revolution. Der Mond bestand aus Eis, und nicht nur er, das ganze Weltall war voller eisiger Himmelskörper, die auf heiße Himmelskörper stürzen, explodieren, neue Himmelskörper entstehen lassen, wie auch die Erde aus einem solchen explosiven Zusammentreffen entstanden war. Die etablierte Physik, die etablierte Wärmelehre – all das konnte man getrost ad acta legen, ein Irrtum, Eis war der Stoff, aus dem der Kosmos gemacht war. Die Theorie erklärte nicht nur alles, sie bezog auch dem Anspruch nach alle Wissensgebiete mit ein. Wirklicher Welteis-Forscher konnte demnach, so Hörbiger selbstbewusst, nur werden, wer „mathematisch, physikalisch, wärmetechnologisch, optisch, elektrisch, magnetisch, dynamisch, statisch, hydraulisch, gasphysikalisch, chemisch, auch philosophisch, prä- und posthistorisch, ja sogar auch geologisch und meteorologisch, last not least auch moralisch, biblisch, poetisch, prophetisch und theologisch“ zu arbeiten verstehe.
Eine wissenschaftliche Revolution, oder Scharlatanerie? Christina Wessely ist es in ihrem Essay nicht darum zu tun, Hörbiger zu entlarven, als Hochstapler und Rosstäuscher. Vielmehr beobachtet sie präzise, wie die etablierte Wissenschaft ihre eigenen kosmologischen Deutungen zu behaupten sucht, und wie Hörbiger und seine Anhänger ihre Sicht der Welt durchzusetzen trachten. Von wissenschaftlicher Warte war das Urteil schnell gesprochen: Schon die Einleitung eines Sammelbandes, in dem etablierte Wissenschaftler ihre Argumente Mitte der 20er Jahre präsentierten, bezeichnete die Welteislehre als „vollkommen verfehlt“. Hörbiger setzte dagegen auf Chuzpe und strategisches Geschick, auf Überzeugungskraft und Beharrungswillen, er suchte Verbündete bei der Popularisierung der Welteislehre und fand sie bei Technikern und Ingenieuren, kosmologisch dilettierenden Gymnasialprofessoren und schillernden Gestalten wie Max Valier, einem frühen Pionier der Raketenforschung, die die neue Lehre in eine breitere Öffentlichkeit trugen. Dort und nicht bei der Universitäts- und Akademiewissenschaft fanden die „Welteis-Verkäufer“ (Jürgen Kaube) Erfolg und Anerkennung, dort konnten sie durch ihren ganzheitlichen Anspruch und die technisch begründete kühne Vision der Kälte faszinieren und überzeugen. Um der Nachwelt die richtige, die „wahre“ Lesart der Erdentstehung korrekt zu überliefern, legte Hörbiger obendrein ein Archiv an, das am Ende mehrere Zehntausend Blätter mit Briefen, Manuskriptentwürfen, Skizzen und Abbildungen umfasste und die Basis für Wesselys Arbeit bildete.
Die offizielle Anerkennung seiner Theorie erlebte Hörbiger nicht mehr, er starb 1931, sieben Jahr bevor die Welteislehre in die nationalsozialistische „Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe“ aufgenommen wurde. Heinrich Himmler und andere Größen des NS-Regimes verteidigten sie nachdrücklich gegen Kritik, selbst wenn sie aus den Reihen zuverlässiger NS-Wissenschaftler wie vom Kopf der sogenannten Deutschen Physik, Philip Lenard, geäußert wurde. Doch gerade dass sie vom Nationalsozialismus so vereinnahmt wurde, kostete die Welteislehre am Ende ihre Überzeugungsmacht; sie nach 1945 noch zu verteidigen, war jetzt ein schwieriges Unterfangen, und die letzten Welteisgläubigen mussten schließlich klein beigeben, als Neil Armstrong im Juli 1969 seinen Fuß nicht auf blankes Eis, sondern auf eine Mondoberfläche voller Staub und Geröll setzte.
Christina Wessely erzählt in „Welteis“ nicht nur eine „wahre Geschichte“, sondern auch eine spannende, fesselnde, bisweilen den Atem verschlagende. Die Jury war beeindruckt von der Weite des wissenschaftshistorischen Bogens, den sie in ihrer Arbeit schlägt, von der Strahlkraft, die ihre Erzählweise entfaltet, und von der Souveränität ihres Urteils, das Hörbiger nie diffamiert oder die Welteislehre der Lächerlichkeit preisgibt, sondern dem es auf eine sehr weitreichende Frage ankommt, der Frage nämlich, worin sich das Wissenschaftliche vom Nicht-Wissenschaftlichen unterscheidet. Diese Frage, so lernt man von Frau Wessely, wäre ohne die Herausforderungen einer dann als solcher markierten „Pseudowissenschaft“ gar nicht zu beantworten. Anders gesagt: Wir brauchen die kühnen Scharlatane, um uns unseres Selbstverständnisses als Wissenschaftler zu vergewissern. Gelangt man nach ebenso spannender wie unterhaltsamer Lektüre zu solch grundlegenden Einsichten, dann ist das ohne Zweifel preiswürdig.“
Zur Vita der Preisträgerin: Christina Wessely studierte Geschichte und Kulturwissenschaften an der
Universität Wien, der Freien Universität Berlin und am University College London. 2004 wurde sie an der Universität Wien promoviert mit einer Abhandlung über die Kulturgeschichte Zoologischer Gärten. Danach arbeitete sie als Postdoctoral Research Fellow am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und als Visiting Fellow am Department of the History of Science an der Harvard University. Sie wurde Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Wien sowie an der Leuphana Universität Lüneburg und ist seit März 2012 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin tätig. Zu ihren Publikationen zählen, abgesehen von dem ausgezeichneten Werk: „Künstliche Tiere. Zoologische Gärten und urbane Moderne“. Kadmos, Berlin 2008, und „Pseudowissenschaft. Konzeptionen von Nicht/Wissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte“. Suhrkamp/stw, Frankfurt am Main 2008 (Hrsg., gemeinsam mit D. Rupnow, V. Lipphardt, J. Thiel).