Am 17. Juli 2015 wurde im Rahmen der Absolventenfeier des Instituts für Geschichtswissenschaften zum zweiten Mal nach 2013 der Otto-Hintze-Nachwuchspreis verliehen, der wieder mit 3000 € dotiert war. Ausgezeichnet wurde Florian Peters für seine Dissertation „Revolution der Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg in der Geschichtskultur des spätsozialistischen Polen, 1976–1989“.

Das Jury-Mitglied Heinz-Elmar Tenorth hielt auf die Arbeit folgende Laudatio auf den Autor und sein Werk:

Ich habe die Ehre und das Vergnügen, im Namen der Michael-und-Claudia-Borgolte Stiftung den Otto-Hintze-Nachwuchspreis 2015 zu verleihen, Ihnen den Preisträger zu nennen, seine Arbeit zu rühmen und ihn dafür zu belohnen.
Die „Borgolte-Stiftung zur Förderung der Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität“ vergibt ihren Preis für „herausragende“ Arbeiten, die am Institut in akademischen Prüfungen eingereicht wurden. Man kann sich bewerben, man kann vorgeschlagen werden, und die Regel ist, dass der Vorstand der Stiftung in seiner Auswahlsitzung mit Arbeiten konfrontiert wird, deren exzellente Qualität schon daran zu sehen ist, dass sie alle mit den besten Noten bewertet wurden. Uns trägt das ein schwieriges Entscheidungsproblem ein; denn die handwerkliche Qualität der Arbeiten, die uns bisher vorlagen, ist in der Regel über jeden Zweifel erhaben. Das war 2015 nicht anders. Wie haben wir unser Auswahlproblem gelöst, was zeichnet den diesjährigen Preisträger besonders aus?
Florian Peters, das ist der Preisträger, hat nach Studien der Ostereuropäischen Geschichte, der Politischen Wissenschaft und der Germanistik in Kiel, Poznan und Berlin 2014 seine Dissertation zum Thema „Revolution der Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg in der Geschichtskultur des spätsozialistischen Polen, 1976-1989“ vorgelegt. Diese Arbeit zeichnen wir heute aus, wegen der besonderen Vorzüge, die sie neben den handwerklichen Fundamenten hat; denn die Absicherung in einem reichhaltigen Archiv- und Quellencorpus, darstellerische Qualität, eine klare, thesengeführte Argumentation vor dem souverän genutzten Hintergrund der Forschung, das war Grundbedingung. Beeindruckend war darüber hinaus für uns, ältere Menschen, die wir alle im Vorstand sind, zunächst die in den Grundlagen wie in den Details so überraschende wie überzeugende, die neuartige Aufklärung über eine Geschichte, die wir als Zeitzeugen erlebt hatten und zu kennen meinten, und die wir als einen Prozess binär codiert hatten, in dem sich auch in Polen die Staatssozialistische Gesellschaft hier dank der heldenhaften Aktionen der Solidarnosc dort letztlich auflöst. Peters zeigt diesen Prozess jetzt als überraschendes, keineswegs einfach dual zu codierendes Geflecht von Ereignissen und Akteuren, zwischen „staatssozialistischer Memorialpolitik“, national-kommunistischem und national-katholischem Narrativ, innerhalb der professionellen sowie der parteiamtlichen Historiographie und in der Dynamik eines Prozesses von kollektivistischen zu individualistischen Perspektiven. Aber wie war diese neue Sichtweise so überzeugend möglich, dass wir so bereitwillig unsere alten Ansichten aufgegeben haben? Da steckt die historiographische Leistung, fundiert in mehreren Dimensionen seiner Arbeit, von denen ich drei besonders hervorheben will:
-    Florian Peters organisiert, das zuerst, die Geschichte, die er erzählt, über einen Leitbegriff, nämlich „Erinnerungskultur“, die er als Konstruktion einer Praxis versteht, die in ihren Akteuren und Themen, Fronten und Ambitionen die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zugleich erzeugt und strukturiert. Das ist, bis 1989, ein „Kampf um Wahrheit“, der als Kampf um die wahre Geschichte Polens, ihre Deutung und ihre aktuelle Geltung, ausgetragen wird – wesentlich vom zweiten Weltkrieg bestimmt, wie seine vier exemplarischen Themen zeigen: die doppelte Besatzung durch die Deutschen und die Sowjetunion, Katyn als unantastbares Tabu und antisowjetischen Code, die Aneignung der Widerstandstradition und des Warschauer Aufstands sowie die Grenzen des nationalen Narrativs in der Wahrnehmung des Holocaust. In diesen Themen strukturiert sich die polnische Welt nach Innen und Außen, bildet sie Gegenwart, Vergangenheit Zukunft;
-    Er sortiert dabei, zweitens, gegen die einfache und duale Schematisierung von zwei Lagern, die so naheliegend scheint, die polnische Welt neu, zeigt nicht nur Differenzen zwischen offizieller und alternativer Erinnerungskultur, sondern auch Gemeinsamkeiten zwischen den Lagern und Akteuren, Nähe und Distanz selbst an unerwarteter Stelle, etwa die ebenfalls holistische Argumentation des katholischen Narrativs trotz inhaltlicher Differenz, die Morde von Katyn als den kontinuierlich scharfen Dissenspunkt, die Folgen für das Handeln in dieser Gemengelage zwischen Dissens und Konsens, bis hin zu den Selbsttäuschungen, denen der Staat erlag, weil er sich im Konsens mit dem Volk und seiner Erinnerungskultur wähnte und sogar meinte Wahlen erlauben zu können – in denen er dann 1989 unterging;
-    Das führt schon zu der dritten Dimension, die aus dieser Arbeit mehr macht als eine handwerklich herausragende Leistung. Sie lehrt uns vielmehr, nicht nur die Geschichte Polens bis 1989 besser zu sehen, sondern auch unsere Urteile als die Vorurteile der Zeitzeugen zu problematisieren, bis hin zu dem – aus deutscher Perspektive – so irritierenden Befund, dass vor dem Hintergrund der polnischen Erinnerungskultur ein für uns emotional so stark besetztes Ereignis wie Willy Brandts Kniefall am Denkmal des Warschauer Ghettos in der polnischen Wahrnehmung ein problematisches Ereignis war, oder, jetzt für den polnischen Diskurs, welche Bedeutung z.B. die politischen Konflikte um die Holocaust-Erinnerung und den Antisemitismus im nationalen Narrativ bis heute haben.
Historiographie als Beobachtung der Selbstbeobachtung einer nationalen Kultur, die als Medium der Konstruktion von Identität und der Austragung von Konflikten, kollektiv wie individuell, analysiert wird, diese Leistung erkennen wir hier also vor allem an, und im Übrigen, sie ist dann für die Selbstbeobachtung der polnischen Kultur so relevant wie für die deutsche, auch für deren staatssozialistische Erinnerung.
Herr Peters, im Namen der Stiftung darf ich Ihnen zu ihrer so fundierten wie inspirierenden, irritierenden wie belehrenden, klugen und reflektierten Arbeit ganz herzlich gratulieren! Im Namen der Stiftung überreiche ich Ihnen den Otto-Hintze-Preis 2015, eine Urkunde und die Aussicht auf das Preisgeld, – und wünsche Ihnen weiterhin Erfolg und Anerkennung in ihren historischen Forschungen.
 

Zur Vita des Preisträgers:
Florian Peters (*1981) studierte Osteuropäische Geschichte, Politische Wissenschaft und Germanistik in Kiel und Poznań, bevor er am Institut für Geschichtswissenschaften die Arbeit an seiner Dissertation aufnahm. Hier war er als Doktorand und Lehrbeauftragter an den Lehrstühlen für Neueste und Zeitgeschichte sowie für Geschichte Osteuropas tätig. Daneben war er dem Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam assoziiert. Seine Promotion erfolgte 2014. Seit September 2014 arbeitet er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsabteilung Berlin des Instituts für Zeitgeschichte. Gemeinsam mit Rudolf Jaworski publizierte er die zweisprachige Studie „Alltagsperspektiven im besetzten Warschau. Fotografien eines deutschen Postbeamten (1939-1944)“ (Herder-Institut, Marburg 2013, sowie Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2014).